Ich mache wie geplant einen Spaziergang zum hiesigen Friedhof. Ich frage mich, ob er wohl auch mit mir spricht, wie jene, die ich letzte Woche besucht habe. Er tut es!
Sie haben es alle geschafft, ist mein erster Gedanke als ich eintrete. Sie sind gegangen, sie haben losgelassen, sie sind gestorben, wie auch immer sie dies erlebt haben.
Ein Paar fällt mir auf. Evaristo 1911-1967 und Luce 1912-2006. Das Foto von ihm zeigt einen Mann in der Blüte seines Leben. Das Bild von ihr widerspiegelt eine fast hundertjährige Frau. Ohne die Fotos hätte man nur die Jahreszahlen, um die Zeiträume zwischen diesen zwei Menschen zu ermessen. Ich betrachte sie lange. Sie muss ein ganz anderes Weltbild als er gehabt haben, als sie starb. Sie hat bestimmt Dinge erlebt, die er sich nicht hätte vorstellen können.
Zwei oder drei Paare auf dem Friedhof sind im gleichen Jahr gestorben. Das ist schön, finde ich, ohne zu wissen, ob es das wirklich war. Meine Mutter wünscht sich das auch so. Sie möchte den Vater nicht überleben und er wiederum möchte nicht allein gelassen werden. Vielleicht wird es ihnen gelingen und man wird sagen, dass es schön ist, ohne zu wissen, ob es das wirklich ist oder war.
Da ist noch der Maestro Alberto B., der von 1899 bis 1957 gelebt hat. Er ist allein, hat ein Grab für sich. Ein Foto von einem Lehrer seiner Zeit! Brille mit grossen, runden Gläsern, aufmerksamer, leicht melancholischer Blick, Haare nach hinten gekämmt, weisses Hemd, grauer Anzug, schwarze Krawatte. 1957 war mein Vater dreissig Jahre alt und hatte Brillen mit dicken Rändern. Wie Alberto hatte er die Haare nach hinten gekämmt. Sie hatten die gleiche Frisur wie Humphrey Bogart. Ich wette, Alberto hatte auch einen entsprechenden Hut, wie mein Vater einen hatte, wie Bogart eben.
Der Zeitgeist verbindet durch Symbole, sagt mir das Grab von Alberto. Während ich schreibe, surfe ich schnell nach Humphrey Bogart und was stelle ich verblüfft fest: Alberto und Humphrey haben in derselben Zeitspanne gelebt, von 1899 bis 1957. Ich gäbe viel darum, den Geburts- und Todestag von Alberto zu wissen.
Ich surfe also noch ein bisschen und was finde ich, der Maestro war 1921 Lehrer in Arosio und fuhr jeweils mit seiner Harley Davidson von Novaggio aus zur Arbeit. Man nannte ihn Maestro Carola, weiss heute aber nicht mehr, was es mit diesem Namen auf sich hatte. Er galt als etwas verrückt.
Das freut mich. Ich hatte ihn mir auf Grund des Bildes anders vorgestellt, hätte ihm nie ein Motorrad zugetraut, schon gar nicht eine Harley.
Nicht einmal eine Sekunde im Leben von Alberto hat es gebraucht, um das Foto von ihm zu knipsen. Auf Grund dieses kurzen Momentes, der vor meiner Geburt stattfand, mache ich mir ein inneres Bild von ihm. Das ist der Hammer! Wir wird das mit uns sein? Wer wird aus der Flut von Bildern jenes aussuchen, das uns auf dem Grab repräsentieren wird?
Sollte ich ein paar aussagekräftige Selfies machen, damit nichts dem Zufall überlassen wird? Soll ich in Facebook eine Galerie aufbauen, die dann, wenn mein Profil auf Antrag, auf Gedenkstatus gestellt wird, mich in ein gutes Licht rückt?
Was habe ich eigentlich auf diesem Friedhof gesucht gestern? Ah, ich konnte ja nicht nach Luino fahren. Gereist bin ich nun trotzdem und wurde nicht mal nass dabei.
Montag, 13. Oktober 2014, inspiriert vom ewigen Regen im Tessin
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