Bild: Linke Schulter höher als die Rechte - aaautsch!
Samstag, 28. Juni 2014
Ja, es ist so. Ich habe immer etwas. Ich meine, mir tut immer etwas weh, solange ich mich erinnern kann. Schon bevor ich eingeschult wurde, bin ich im Balgrist gewesen, weil mir der Rücken weh tat und ich irgendwie falsch dastand und falsch lief. Schräg war ich, das stellte ich dann selber fest, weil der linke Riemen des Schulranzens immer länger sein musste.
Überhaupt, meine Mutter erzählt immer wieder, wie schon die Hebamme bemerkte, mit dem Becken stimme etwas nicht. Der Arzt wollte nichts davon wissen. Die Grossmutter, die mit den Walderdbeeren, stellte fest, dass ich X Beine habe. Sie verordnete mir, wenn ich von der Klavierstunde, die sie mir gab, zum Bus lief: Daumen raus! Sie brüllte es durch das ganze Dorf, bis ich an der Haltestelle zum stehen kam. Dann winkte sie und ging ins Haus. Die «Daumen raus» Theorie besagt, dass wenn ich die Daumen nach aussen drehe, die Füssen dann dasselbe tun.
Ich habe gelernt, dass man nicht jammert. Vor allem Frauen jammern nicht. Eigentlich sollten sie sogar gar nie jammern, gemäss Grossmutter. Sie galt als Feldweibel der Familie, sie war die Autorität und ich habe ihr geglaubt.
Ich habe nun aber von meinem Liebsten erfahren, dass ich viel jammere. Das hat mich zutiefst schockiert, denn das kann schlicht nicht sein. Ich weiss nicht einmal, wie sich jammern bei mir äussern würde. Er sieht es irgendwie, wenn ich leide und das tu ich manchmal tatsächlich, denn mittlerweile habe ich eine Diagnose erhalten, die mich zum jammern durchaus berechtigt. Ich meine, wenn mein Liebster es merkt, wenn es mir nicht gut geht, bedeutet dies doch, dass er ein sensibler Mensch ist. Das ist er. Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen, auch wenn das saumässig weh tun soll, wie ich gehört habe.
Nun, ich habe nach reiflichen Überlegungen festgestellt, das ich eine veritable Jammerblockade habe. Wahrscheinlich sickert hie und da etwas durch, vielleicht mehr als ich zugeben möchte.
Jedenfalls muss etwas geschehen und ich weiss auch schon was: Ich werde den ganzen Juli hindurch aktiv jammern. Ich habe es heute schon ausprobiert. Es war phantastisch. Ich habe mich auf dem Gabbeh Teppich gewälzt, gewimmert, mir den Bauch gehalten, «au» geschrien. Es war eine Trockenübung, denn mir tat zu diesem Zeitpunkt nichts weh. Nun warte ich sehnsüchtig auf Schmerzen, um zu schauen, wie die Post abgehen wird – live und in realtime!
Nachtrag
Es ist nicht so, dass meine Grossmutter allein die Schuld an meiner Blockade trägt. Seit jenen Klavierstunden ist viel Zeit ins Land gezogen. Die Bushaltestelle ist mitten in einer Überbauung und der Baumgarten der Grosseltern, mit den Bernerrosen, ist einer Einfamilienhalde gewichen.
Meine Haare sind ergraut und meine Hüften fett. Ich selber hatte die Gelegenheit, mich mit unzähligen Ratschlägen, Schuldzuweisungen, Therapien, Diätvorschlägen, Turnübungen, Yogahaltungen, Fitnessverrenkungen, Lebenshaltungen, Gobuli, Tropfen für Not- und andere fälle und viel «Think positiv, nimms als Herausforderung!» Zeugs zu befassen. Krankheit als Zeichen, Schmerzen, die mir etwas sagen wollen, die ich aber nicht hören kann, weil sie zu laut weh tun. Alle meinten es gut und vieles tat auch gut.
Ich will jetzt aber jammern, einfach nur jammern, wehklagen und untröstlich sein, voilà!
Montag, 30. Juni 2014
Nachdem mein Liebster gestern eine perfekte Jammerperformance hingelegt hat, es ging um das kalte Wetter und Gliederschmerzen, bin ich zutiefst zerknirscht.
Ich bemühe mich redlich darum, an meinen ganz individuellen Jammer Profil zu arbeiten und ernte nur ein müdes Lächeln: Jammern ist nicht eine Aufzählung von Schmerzen!
Was dann, wenn nicht das?
Er hat mir gnädigerweise ein paar möglich Sätze des wirklich guten, wirkungsvollen Jammerns empfohlen. Zum Beispiel kann man sagen: Warum ich? Ich, die mir generell so Mühe gebe, die zuverlässig und pünktlich ist. Warum ich, die gesund isst und immer alle Physiodehnübungen mache! Warum ich, die ich kaum Auto fahre und nie Flüge buche, die nett und naturverbunden bin! Warum ich?
Gestern Abend kam mir dieser Satz reichlich doof vor, katholisch und zu pathetisch. Schliesslich bin ich reformiert gross geworden und meine Grossmutter, der Feldweibel, orientierte sich an der kalvinistischen Bibel, die ich geerbt habe. Zucht und Ordnung! Heute früh, finde ich den Ansatz durchaus interessant. Warum ich?
Wie geht es deinem Jammern? Es ist schon der 21. Juli.
Bin im Büro und vergnüge und erheitere mich an deinen Texten und Gedanken.
Gruss Bettina
Danke für Deinen Kommentar. Das ist schön, liebe Bettina, wenn ich Dich im Büro etwas aufheitern kann! 🙂