Bild: Mein erstes Jugendfest!
Donnerstag, 03. Juli 2014
Heute ist Jugendfest. Ich habe frei genommen. Ich sitze zu Haus im Garten und ärgere mich. Unendlich langsam und ungeschickt versucht ein Lastwagen sich rückwärts in die Anlieferungsrampe vom Lehner Versand einzufädeln. Dabei piepst er sehr laut, übertönt fast das Rauschen der A2 und ärgert mich, da ich ganz auf das Jugendfest, den Rutenzug von Brugg, meiner Heimatstadt, eingestellt bin.
Bild: Lehner Versand, dahinter wäre der Pilatus, mit Lastwagen!
Dies ist das erste Jahr, wo ich mit guten Gewissen sagen kann: „Es ist nicht nötig, dass ich vor Ort bin“. Alles, was ich brauche, erfahre ich live durch die Facebookgruppe: „Du besch vo Brugg wänn …“. Zum Beispiel habe ich erfahren, dass es wunderbar war am Morgen. Ich durfte das Bruggerlied hören und schauen, wie Leute durch die Stadt schlendern. Alles in bester Ordnung. Da ich den Ablauf genau kenne, da er sich in einer unheimlichen Zuverlässigkeit jährlich wiederholt, kann ich gut verorten, was als nächstes kommt.
Im Moment, es ist 14.03 Uhr, geht langsam aber sicher auf der Schützenmatte die Post ab. Die Musikschule spielt zum Tanz auf. Die Kindergärtnerinnen hüpfen im Takt, schweissgebadet, mit den Kindern die Kreuzpolka. Die Kinder schauen mit verträumt abwesenden Blicken in die Leere. Wundervoll, diese Kinderaugen, lustig auch, wie sie geistesabwesend stolpern. Ich habe das immer geliebt und versucht, diese Blicke mit der Kamera einzufangen. Manchmal erwachen sie kurz, die Kleinen, kreischen, lachen, rufen etwas, schauen sich nach den Eltern um, um gleich wieder in ihr ganz privates Jugendfestgefühl zu versinken.
Als ich heute früh meine Mutter angerufen habe, um zu sagen, dass ich nun doch nicht komme, war sie irgendwie erleichtert. Es sei eh nicht mehr wie früher und das macht die alten Leute melancholisch, stelle ich fest.
Es ist nun 15.35 Uhr. Ich habe in der Zwischenzeit Kaffee gemacht, eine Glace gegessen und die Wäsche aufgehängt. In der Ferne ein anderer Lastwagen der piepst. Ich kann ihn jedoch nicht sehen. Ich habe Fotos gesucht und welche gefunden.
Bild: Ich, 1964, mit diesem etwas verlorenen, versonnen Jugendfestblick.
Ich glaube, ich habe mich noch nie so intensiv mit dem Jugendfest befasst, wie heute nachmittag. Vor Jahrzehnten musste ich im Auftrag von Lehrerin L. einen Aufsatz darüber schreiben, etwas Kritisches, glaube ich. Heute wünsche ich, ich hätte folgendes geschrieben:
Das Jugendfest – Ein Aufsatz von Marianne Gygli 3d, 1974
Am Jugendfest ist man auf sich selber zurückgeworfen, wie sonst nie. Alle Unterschiede erhalten scharfe Konturen und werden sicht-, fühl- und wahrnehmbar.
Ist man scheu, wie ich zum Beispiel, spürt man dies doppelt oder dreimal so stark. Alle um mich herum scheinen glücklich. Sie reden, die nähern sich dem anderen Geschlecht, sie nutzen ihre Chance und tun sich mit verschiedenen Dingen hervor. Ich selber bin immer noch scheu. Es passiert gar nichts. Einzig trage ich meine wunderschönen schwarzen, langen, gelockten Haare offen und alle bewundern dies und greifen mir in den Pelz. Ich, die Tochter vom Lehrer G., bin herzig und das hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl, denn ich wäre lieber beliebt und könnte auswählen, mit wem ich knutschen möchte.
Meine dicke Freundin M., mit der ich im Kindergarten in der Schützenmatte viel erlebt habe, ist am Jugendfest noch viel dicker, vor allem am Umzug.
Ob mein Kollege P. selber schon ahnt, dass er schwul ist, weiss ich nicht. An der Art, wie er sich am Umzug durch die Stadt bewegt, werden es alle, die einen Blick auf ihn werfen, denken. Ich mag ihn sehr, weil er eben anders ist. Am Jugendfest möchte ich aber gerne von den starken Jungs beachtet werden, was ja eben, wie schon gesagt, nicht klappt.
Am Umzug zeigt sich auch wunderbar und gnadenlos, wer die Tradition wirklich verstanden hat und dazu gehört oder eben nicht. Ein unstimmiges Detail, wie zum Beispiel falsche Blumen im Haar oder ein ungeschickt geflochtenes Kränzchen für das Töchterchen, verrät unkundige Fremdlinge sofort. Alle Versuche, sich im Laufe der Jahre zu integrieren, sind vergebliche Mühe, denn das Jugendfest zeigt mit dem blutten Finger auf jene, die es einfach noch nicht begriffen haben.
Ermutigt von seinen echten, leidenschaftlichen Brugger Eltern, bereitet sich N. auf das Tüschle am Zapfenstreichabend vor. Anfangs wollte er nicht, merkt jedoch, wie viel es seiner lieben Mutter bedeuten würde. Papa war ihr erster Jugendfestschatz. Die Gute hat das Grünzeugs für ihn schon bereitgestellt. Er sollte seiner Auserwählten, gemäss alter Tradition, ein Eichenzweiglein anbieten. Sie würde ihm lächelnd, mit gesenktem Blick und geröteten Wangen eine Granatblüte geben und dann wäre es besiegelt: Sie sind Jugendfestschätzelis! Nun, die Auserwählte hat ihre Blüte Superman geschenkt und stolziert an dessen Arm vom Platz, als N. gerade dort ankommt.
Am Jugendfest geschieht jedes ein Missgeschick und jede soziale Demütigung in der Öffentlichkeit. Alle können es beobachten und alle wissen es, so dass der Schmerz des verschmähten N. an diesem Tag besonders tiefgreifend und unvergesslich sein wird.
Am ersten Donnerstag im Juli werden in Brugg alle Normabweichungen offensichtlich. Niemand kann sich, verstecken. Selbst wenn ein Niemand zuhause bleibt, macht er ein Statement. Am Jugendfest ist klar, wer reich ist, wer viel zu sagen hat, wer beliebt ist, wer ein Suchtproblem hat, wer nicht gut auf seine Kinder schaut, wer eine Putzfrau (natürlich korrekt angestellt) hat. Man erkennt die Neuzuzüger, sowie jene aus fremden Ländern. Man weiss sofort, wer ein Studium machen wird, wer eine Lehre und wer überhaupt keine Chance hat. Man weiss, wer die Kinder der, ich hatte es vergessen zu erwähnen, alleinerziehenden Putzfrau sind. Diese drei Jugendlichen bekommen besonderes Augenmerk, denn sie sind freundlich, offen, anständig, musikalisch und sehr gescheit. Am Jugendfest wird das dreifach hervorgehoben, als wenn dies ein Wunder wäre.
Das Jugendfest ermöglicht es einem, über Jahrzehnte Wunden immer wieder aufzureissen. Schon die ersten Takte vom Bruggerlied können die Seele zum bluten bringen. Erinnerung steigen aus dem Sumpf der Vergangenheit auf, heisse Tränen drängen sich Richtung Augen, man lächelt, weint, wird schwach, hilflos, ist nett zu Leuten, die man nicht ausstehen kann, redet Unsinn. Dieses Phänomen und Ähnliches kann man, den ganzen Tag über, beobachten.
Übrigens, ich habe in der fünften Klasse mit H.J. getüschelt. Wir sind uns im Tanzkurs bei Holliger näher gekommen. Da wir beide sehr scheu waren, hat es nur zum eigentlichen Tauschakt gereicht. Am Jugendfest sind wir dann in Verlegenheit versunken und er ist mit seinen Kumpels rumgezogen.
So, das könnte mein Aufsatz gewesen sein. Wahrscheinlich würde wie üblich INTERPUNKTION! in rot neben der Note stehen: Inhalt gut aber Marianne: INTERPUNKTION! Jetzt kann ich immerhin in der Wikipedia nachschauen, was INTERPUNKTION heisst. Ich klammerte mich damals immer an: Inhalt gut oder sehr gut! Die INTERPUNKTION versaute mir aber immer die Note. Gemein so etwas!
Mittlerweile 17.29 Uhr. Bald beginnt das Behördenzobig. K. wird dieses Jahr das erste mal dabei sein. K. ist neu im Einwohnerrat und ich bin stolz auf sie. Ich glaube, sie mag die Wurst nicht. Ich hoffe, sie wird sich nicht langweilen oder sich blöd vorkommen.
War es zu meiner Zeit wirklich so, dass nur die Bezirksschulmädchen am Reigen mitmachen durften und nur ein Bub der Bezirksschule Kadettenhauptmann werden durfte?
liebe Marianne
mit grossem schmunzeln habe ich deinen jugendfest aufsatz gelesen. Er weckt erinnerungen an vergessenes, gemeinsam erlebtes. Vor langer zeit (gefühlten 100 jahren) waren wir für einige wenige jahre freundinnen. (Theres Schumacher vom Dufourhaus). An euer haus und an deine schönen haare, immer zu zöpfen geflochten, kann ich mich gut erinnern. Habe sie damals bewundert.
Ich freue mich auf weitere zeilen von dir.
Herzlich Theres
…… das ist schön, von dir zu hören, liebe theres. ja, vor hundert jahren, so ist es. wir waren in einem wunderbaren alter, als wir zusammen zwischen dem dufourhaus, dem stäbligut und der kaserne unterwegs waren. es war die zeit vor der pubertät, wo man noch etwas verträumt ist und einfach im hier und jetzt lebt……
Liebe Marianne
Treffend beschrieben, kann einiges bestätigen. Musste oft schmunzeln. Zu unserer Zeit war es tatsächlich so, dass der Reigen den Bez-Schülerinnen vorbehalten war. Gut ändern sich die Zeiten.
Gute Besserung und freundliche Grüsse
Katharina Wingling (Facebook Pseudo Katharina Freundlich )
hoi marianne,
es isch en super ufsatz wo du do gschribe hesch. und du seisch viel wohrs übers jugepfescht und d brugger .
s isch ironisch dass du die ziele gschribe hesch , usgrächnet a dem tag wo ich mis allerletscht jugepfescht bin go fiire.
genau 40 johr nachdem i uusgwanderet bin und fascht genau 50 johr nach mim letschte jugepfescht i de schuelziit.
du seisch viel wohrs über da was s jugepfescht, domols ömel, bedütet hed , und wie me sich do am umzug usgschtellt hed.
ich han da uf meh als ei art erfahre .zerscht als nichtkadett( us gsundheitliche gründ ) denn als nichteilnämer ebe will i nid kadett ha dörfe sii, und denn i de dritte bez hed de hermi müesse nohgeh und ich han dörfe mit schtolz am umzug als kadett teilneh, aber ebe d granate hani sälber müesse poschte , will ebe kes meitli mit eme drittbezler wo ned im kaderzug isch gsii hetti welle tüschle. und au i de vierte bez hed de gärtner haller öppis amer verdient will i jo denn ebe nid emol korporal gsii bin.trotzdem. sind da die 2 beschte jugepfescht gsii ebe will ich als kadett ha dörfe debii si . a de fahneübergab het es mer fascht d chnöpf vom chittel abgschprängt will i so schtolz d bruscht use gschtellt han.und denn bim schpalierschto det bi de chilemuur. det isch mer klar worde dass i jetzt ebe trotz allem en rächte bruggerbueb bin.
am hütige tag isch es mer gliich gange wie dir vor 2 johr .ich bin eifach de ganz tag immer wider uf fb goge luege öbs nöigkeite geb.
s jugepfescht isch halt die ziit wome merkt wie guet dass es ischt das me z brugg hed dörfe ufwachse .
s isch jo scho öppis speziells wenn me jede tag 4 mol am romulus und em remus verbi lauft uf em schuelwäg, ime römische amphitheater verschteckis spillt und d habsburg und s schlössli alteburg, wo d wiege vo einere vo de gröschte dynastie vo europa sind, eifach zum bild vome schöne summertag i de badi ghöred.
ich han das eigetlich gar nie so richtig überleit bis ebe vor 2 johr, woni zäme mit ere fründin us de chindergarte ziit nomol es richtigs jugepfescht ha döfe erläbe .
det het es mer afo tage dass me jugepfescht nid chan beschriibe mi gschpürts eifach, und zwar es läbe lang ,und drum sind mir brugger, wo da emol gschpürt händ ebe ganz bsunderi lüt. ebe ….so het si halt de herrgott gmacht…….
au wenn i wiit ewägg bin hani halt doch au hüt de jugepfeschtgeischt wider gschpürt ,und da isch öppis ganz bsunders
bim herr müller händ mer amigs under de ufsatz müesse“ i, o, sch“, schriibe für inhalt ,ortographie und schrift.
also d schrift fallt hie wäg und d ortografie inklusive interpunktion hani eifach umgange will i mundart schriibe und de inhalt, jo det chasch di hoffentlich wenigschtens drann amüsiere
mit liebe bruggergrüess peter spycher
Liebe Peter, danke för dini Gschecht. S’Jugendfescht esch glaub för veli e süess-suuri Erennerig.