Bild: Die Vorhangröllchen
Ich reise in die Vergangenheit, an den Ort, an dem mein Berufsleben begonnen hat. Das war in einem Kinderheim, das von Ordensschwestern geführt wurde. Ich habe dem Facebook entnommen, dass heute dort ein Sommerfest mit Jubiläum gefeiert wird.
Ich bin mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs. Es darf nicht zu schnell gehen. Ich werde mit dem Bus Nummer drei bis zur Endstation fahren. Dann den Hügel hinauf, der steilen Bergstrasse entlang. Ich möchte mir die Gelegenheit geben, etwas zu fühlen, mich berühren zu lassen von der Situation.
Ich erinnere mich, wie ich jeweils nachts diese Strasse hinauf gegangen bin, zurück in mein Personalzimmer. Ich war achtzehneinhalb Jahre alt und kam oft von einem Besuch bei B. zurück. B. hat für mich Langspielplatten aufgelegt. Wir haben mit Worten die Welt verbessert und geschmust. B. war und ist meine grosse Liebe.
Sr. M. war entsetzt, als sie herausfand, dass ich einen Freund habe. Der Fall wurde diskutiert, mein Vater musste zum Gespräch kommen und man hat mir gesagt, was erwartet wird.
Ich habe dann die Erwartungen nicht erfüllt. Darum wollte Sr. M. nicht mehr mit mir zusammenarbeiten. Sr. F. hingegen schon und so konnte ich die Gruppe wechseln. Sie leitete jene mit dem Bernhardiner Blanko. Wie die kleineren Kinder sich an dieses Riesenvieh von Hund kuschelten, ein wunderbares Bild! Ein gutes Tier, das ich jeden Samstag bürsten musste. Das war eher unangenehm. Ich mochte und mag Hunde nicht riechen.
Bei Sr. M. stand Recht und Ordnung im Vordergrund. Sie litt sichtlich darunter, wenn sich an den Vorhängen ein Röllchen gelöst hatte. Es nicht zu bemerken war ein Vergehen und führte dazu, dass ich zitiert wurde. Damals hiess ich Fräulein Marianne – Fräulein Marianne, kommen sie bitte her!
Die Kinder wurden von ihr zurechtgebogen, was sie Erziehung nannte. Das erschöpfte sie derart, dass sie mehrmals zur Kur musste. Die Kinder wussten, dass sie die Schuld daran trugen. Man hatte es ihnen gesagt.
L. und ich betreuten die Gruppe, wenn Sr. M. in der Kur war. Ich erinnere mich mit Freuden daran, wie die Kinder wieder in ihre eigentliche Form zurück fanden, wenn man aufhörte, sie zurechtzubiegen. Wir zogen mit ihnen durch die Wälder und sammelten Pilze.
Sr. M. kam dann zurück und stellte die zwölfjährige B. wieder unter die kalte Dusche, wenn sie das Bett genässt hatte. Es war schlimm, das mit anzusehen.
Oft packte sie den jungen M. am Kragen, um ihm zu sagen, wie unmöglich er sei und dass nichts aus ihm werden würde. Das war auch schlimm. M. existierte, lebte, fühlte, er war demzufolge gar nicht unmöglich und er entwickelte sich weiter zu einem liebenswerten Menschen. Er hatte lange Zeit Albträume, noch als Erwachsener, in denen sie, Sr. M., die Hauptrolle spielte.
Ich musste ein Kartonstück zuschneiden. Dieses diente dazu, die Wäsche in genau gleicher Breite zusammen zu falten. Ich glaube, sie hatte für jedes Kind eine Schablone, nicht nur für die Kleiderstapel im Schrank. Wer nicht in die Schablone passte, hatte leiden. Seine oder ihre Ecken und Kanten wurden mit Nachdruck abgeschliffen.
Sogar der friedfertig, langsame A. erlebte dies. Das Mittagessen, das ihm zuviel war, wurde ihm solange aufgetischt, bis er es gegessen hatte. Ich glaube es kam auch vor, dass er den Teller vom Vortag zum folgenden Frühstück vor sich hatte.
In diesem Heim hat mein Berufsleben mit einem Praktikum und anschliessender Ausbildung seinen Anfang genommen. Diese zwei Jahre haben mich geprägt. Ich habe den Schatten und den Schrecken der schwarzen Pädagogik erlebt und mir war klar, dass mein Weg einen anderer sein würde. Daran habe ich gearbeitet und daran arbeite ich heute noch, siebenunddreissig Jahre später. Wenn mir Kinder oder Mitarbeitende sagen, dass man vor mir nicht Angst haben muss, spüre ich, dass ich nahe an dem dran bin, was ich mir damals vorgenommen habe.
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