Eine Mitarbeiterin hat mich vor Jahren als Jugendfestrednerin in Brugg vorgeschlagen. Damals war ich noch die Chefin der Suchtprävention Aargau. Helen fand mich ideal dafür – die Stadt Brugg teilte ihre Meinung nicht.
Nachdem sie, Helen, mich gefragt hatte, ob sie mich vorschlagen dürfe, entwickelte ich laufend Jugendfestreden im Kopf: Was würde ich Kindern und Jugendlichen sagen wollen?
Aufgeschrieben habe ich damals nichts – leider. Aber, wenn es auf das Jugendfest Brugg zu geht, entwickle ich heute noch Reden, mal länger, mal nur kürzer.
Jugendfestrede – Idee vor dem Einschlafen
Kürzlich, vor dem Einschlafen, habe ich wieder eine gemacht, eine Rede. Ich sah die Kinderschar vor mir – alle Schulkinder von Brugg, versammelt auf dem Freudensteinplatz. Eine scheinbar homogene Gruppe in weiss und marineblau gekleidet, Mädchen mit Blumen in den Haaren, manchmal Farbflecken durch jene, die nicht wie alle sein wollen. Auch das gehört dazu, es ist Teil des Programms, es gibt kein Entrinnen.
Meine Jugendfestrede – Versuch einer Kurzfassung
Hallo zämme, ich bin da auf meinem erhöhten Podest, gerahmt von Blumen und blicke über euch hinweg. Weiss und marineblau mit Farbtupfern, umrahmt von euren Erwachsenen.
Wunderbar. Ich sass während meiner Schulzeit auch jährlich da, an der Morgenfeier auf dem Freudensteinplatz – ausser bei starkem Regen.
Was ich heute weiss und früher eher ahnte
Was da so einheitlich daher kommt, ist in Wirklichkeit fragmentiert. Fragmentiert? Was heisst das? Das heisst, dass ihr nach unterschiedlichen Kriterien sortiert werden könnt und auch werdet.
Kriterien? Das sind Kategorien – Merkmale. Die sind, wenn man so über euch hinweg schaut, fast unsichtbar. Auffällig sind zum Beispiel jene Mädchen, die sich nicht weiss anziehen wollten. Oder: Kinder mit dunkler Hautfarbe.
Unsichtbar ist die Aufteilung nach Klassen, nach Schulstufen, nach Schultypen, Schulhäusern. Weiter gibt es unsichtbare Sortierung nach Noten, Verhalten, Einkommen und Bildungsgrad der Eltern, Herkunft und so weiter.
Auch ihr habt Aufteilungen: Die Lässigen, die Lauten, die Scheuen, die Verhaltensoriginellen, die Streberinnen, die Dummen – naja, Kinder, ihr wisst schon, was ich meine.
Gut zu wissen – Kategorien sind menschengemacht
All diese Sortierungen, Unterscheidungen und Zuordnungen sind menschengemacht. Sie sind nötig, damit wir Menschen uns orientieren können.
So wollen eure Eltern wissen, wo ihr steht, wie es mit den Noten ist und somit mit euren Zukunftsaussichten. Sie wollen wissen, ob ihr dazu gehört, mitmacht, akzeptiert, beliebt seid – das alles ist gut, um im Leben weiter zu kommen. Wenn etwas nicht so gut klappt, werdet ihr zwäg gebüschelt – nach der Büscheliwoche solltet ihr ja wissen, wie büscheln geht.
Ganz viele Fachleute stehen zur Verfügung, um euch zu büscheln: Psychologen, Ärztinnen, Ergotherapeutinnen, Logopäden, Ritalin – äh, Ritalin ist ja keine Fachperson, soll euch aber auch in die richtige Bahn lenken. Ihr wisst auch hier sicher besser Bescheid als ich.
Es gibt ja auch viele Projekte für Klassen, damit alles besser geht, alles seine Richtigkeit hat und ihr euch nicht schikaniert, also mobbt, wie man das heute nennt.
Auch Kinder brauchen Orientierung
Natürlich braucht auch ihr Orientierung: Zu wem passe ich – mit wem tüschle ich am Zapfenstreich, wie komme ich am besten durch die Schulzeit, wer mag mich, wer ist blöd, wie mache ich mich beliebt, …? Einmal mehr, ich denke, ihr wisst, was ich meine, oder?
Die Lehrpersonen auch – darüber rede ich jetzt aber nicht
Ja, ja, auch die Lehrpersonen brauchen Orientierung – sie sind wie wir alle. Ohne Einteilungen und Kategorien geht nichts mehr. Aber eben, ich schreibe hier eine Kurzfassung und die ist schon ziemlich lang. Darum lasse ich das mal mit den Lehrpersonen.
Jugendfest – das will ich sagen!
Auch wenn die Kategorien für die Orientierung wichtig sind – lasst euch nicht total von ihnen einnehmen.
Denkt, fühlt, empfindet – lasst euch dies nicht austreiben – es schadet eurer Zukunft nicht, wenn ihr euch auch als Erwachsene lebendig fühlt.
Unsereins muss diese Lebendigkeit oft wieder suchen durch Therapien, Krankheiten, mit Medikamenten.
Wir brennen innerlich aus, wenn wir durch unseren Alltag aufhören zu fühlen. Das ist ziemlich schlimm. Also, besser dranbleiben, solange ihr noch lebenshungrig seid.
Riskiert es ab und zu, anders zu sein. Bleibt neugierig, suchend, fragend.
Das Selbstverständliche ist nicht in Stein gemeisselt, das meinen wir nur. Es kann hinterfragt werden. Bevor ihr eingeschult wurdet, habt ihr, so hoffe ich, laufend Fragen gestellt und neugierig die Welt um euch erforscht. Das könnt ihr bis ins hohe Alter machen, das geht.
Insbesondere möchte ich euch nahe legen, in Kontakt zu sein – also tüschle – austauschen. Das heisst, auf andere Menschen zugehen, auch auf jene, die einem fremd sind.
Es ist für mich immer wieder erstaunlich zu erleben, dass Menschen, die ich blöd finde, so toll sein können. Sich an Vorurteilen orientieren ist echt einengend. Man macht mit Vorurteilen die eigene Welt enger, grauer, langweiliger.
Sich immer mit derselben Sorte Menschen umgeben, ist öd. Alles ist sicher und voraussehbar – schrecklich, wenn sowas Jahrzehnte dauert.
Lasst euch verunsichern, immer wieder, bis ans Lebensende. Baut aus der Verunsicherung, den offenen Fragen, den Lücken, etwas Lebendiges, Schönes, Wohltuendes für euch und die Welt, zusammen mit unterschiedlichen Menschen.
Kurz: Tüschelt mit anderen und büschelt euch immer wieder selber zu dem, was ihr sein möchtet und euch zufrieden macht.
Uiuiui, liebe Kinder, ich höre jetzt besser auf. Ich wünsche euch ein lebensfrohes Jugendfest und vergesst eure Sehnsüchte nicht und die ganz kleinen, leisen Gefühle tief in euch drinnen.
Und für alle Fälle: Nehmt einen Stein aus dem Freudensteinwald mit in die Zukunft – einfach so, zom öich dra häbe ab ond zue, einfach en Freudestei i der Hand ha.
Für Hélène Piller, die mir eine Jugendfestrede zugetraut hat und mich so über Jahre inspiriert hat.
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